2016 | Frankfurt Zeitung, Cyr-wheel im Tigerpalast

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ARTISTIK IM TIGERPALAST

Große Kunst auf kleiner Bühne

von Inga Janovic

Artistische Spitzenleistungen, dafür ist der Tigerpalast berühmt. Doch das, was Valérie Inertie derzeit im Varieté unweit der Konstablerwache zeigt, gab es in Frankfurt noch nie zu sehen.

Wenn Valérie Inertie am Ende ihres Auftritts angelangt ist, verharren die Zuschauer noch einen Moment in ihrer Verzauberung. Wie in einem Konzert lassen sie das immer langsamer und dabei lauter werdende Klack-Klack verklingen, mit dem Inerties riesiger Reifen auf dem Boden zur Ruhe kommt. Mit dem letzten lauten Klack erst begreifen sie, dass der so anmutige Tanz für die aus Kanada stammende Artistin ein sehr anstrengender Kraftakt war. „Das ist meine Philosophie. Obwohl es sehr, sehr hart ist, will ich, dass es leicht aussieht.“

Cyr-Wheel nennt sich die Kunst der 36-Jährigen, die mit der aktuellen Frühjahrsrevue ihre Premiere im Tigerpalast feiert. Dessen Publikum ist an Artisten gewöhnt, die zur Weltspitze gehören, oft sogar die gekrönten Meister ihrer Disziplinen sind. Nun präsentiert das Varieté neben Stars wie den Akrobaten-Brüdern Grynchenko oder dem Strapaten-Turner Darkan die Pionierin einer Kunst, die es zuvor noch nicht in Frankfurt zu sehen gab. Inertie beherrscht mit dem Cyr-Wheel, einem 13 Kilogramm schweren Reifen von 1,80 Meter Durchmesser, einen Tanz, der die Schwerkraft zu überwinden scheint. Sie lässt sich vom Reifen durch die Luft wirbeln, auf den Kopf stellen, umschmeicheln.

Die Kanadierin, die Sport macht seit sie laufen kann und auch Ballett und Tango beherrscht, geht mit ihrem Reifen um wie mit einem Tanzpartner. „Es ist wie beim Tango, mal führe ich, mal er. Und obwohl ich immer denke, ich habe alles schon mit ihm erlebt, macht der Reifen manchmal Dinge, die mich überraschen.“ Da passt es, dass sie ihren Partnern Namen gibt: „Ich habe ein goldenes Rad, das heißt Dora, mein silbernes Quicksilver.“

Gebaut hat die Reifen Inerties’ Vater, der von Hause aus Schreiner ist. Als seine Tochter mit ihrer Kunst begann, gab es niemanden, der Cyr-Reifen herstellte. Das ist inzwischen anders, denn Cyr-Wheel ist eine noch junge, aber heute recht populäre Disziplin für Artisten. Erfunden hat sie der Kanadier Daniel Cyr; Pate stand seiner Idee auch das Rhönrad, das aus zwei verbundenen Reifen besteht. Mitte der 1990er führte Cyr im Zirkus erstmals Flüge und Drehungen vor, bei denen ihm nichts als ein übergroßer „Hulahoop-Reifen“ Halt gab. Vor allem in Amerika fand die neue Kunst schnell Fans und Nachahmer. Cyr gab selbst Unterricht.

Seine erste und bislang beste Schülerin ist Valérie Inertie, die im kanadischen Quebec eine klassische Zirkusausbildung absolvierte. Weil es viel Kraft braucht, um den Ring in Bewegung zu halten, trainieren vor allem Männer damit. Kraft und Körperbeherrschung strahlen aus ihren Choreographien. Beides hat auch Inertie, aber sie zeigt mehr: „Ich habe Gefühl, Emotionen hinzugefügt.“

Viele Figuren hat Inertie selbst entwickelt, sie zum allerersten Mal auf der Bühne gezeigt. In vielerlei Hinsicht ist sie eine Pionierin. In Europa, wohin sie 2005 aufbrach, war sie oft die Erste, die überhaupt mit einem Cyr-Rad auftrat. In den gut 30 Ländern, in denen sie gastiert hat, war sie wenigstens immer die erste Frau in dieser Kunst. Auch beim Zirkusfestival in Monte Carlo, wo sie 2011 mehrere Preise einheimste. „Das reizt mich, die Erste zu sein.“

Deshalb lotet sie, die gern surft, Berge besteigt und auch vorm Fallschirmspringen nicht zurückschreckt, immer wieder die Grenzen ihrer Kunst aus. Jüngst war sie mit ihrem Reifen Teil einer Eis-Revue – und wagt sich nun mit ihrem Auftritt in Frankfurt auf viel zu kleines Terrain.

Denn jahrelang schien es ausgeschlossen, dass die Kanadierin einmal im Tigerpalast auftreten könnte. Denn so groß dessen Ruf, so klein seine Bühne. Sie hat keine acht Quadratmeter, die Inertie aber für ihren Auftritt braucht. Lediglich fürs Gastspiel auf dem Hessentag in Oberursel 2011, im großen Zelt, konnte der Tigerpalast Inertie schon einmal präsentieren.

„Und dann rief sie mich plötzlich an und wollte unbedingt vortanzen“, erzählt Margarete Dillinger, künstlerische Leiterin des Varietés. Sie konnte kaum glauben, was die Kanadierin ihr erzählte: In Berlin, wo sie lebt und demnächst am Friedrichstadtpalast auftritt, hat sie an einer Nummer speziell für die kleine Frankfurter Bühne gearbeitet. „Ich habe mir Stühle als Begrenzungen aufgestellt. Ein paar Mal sind die weggeflogen.“ Etwas langsamer als sonst sei diese Choreographie, dafür führe sie mit ihrem runden Partner einen besonders gefühlvollen Tanz auf. „Der Tigerpalast ist einfach ein legendärer Ort, jeder will hier auftreten“, begründet Inertie ihren Mut zum kleinen Raum.